Wie Menschen mit Autismus die Welt wahrnehmen
Ausgestattet mit Mütze, Sonnenbrille und Kopfhörern verlässt Matthias Huber sein Haus. Reize sind für ihn oft überwältigend. Der 56-Jährige lebt mit dem Asperger-Syndrom, einer Form von Autismus. Seit 20 Jahren arbeitet er als Psychologe mit dem Schwerpunkt auf Autismus und teilt nun seine Erfahrungen im Interview mit uns.
Selbstbetroffen und als Experte im Bereich Autismus-Spektrum-Störung bringt Matthias Huber seine einzigartige Perspektive ein. Anlässlich des Welt-Autismus-Tags am 2. April haben wir die Gelegenheit genutzt, mit ihm über seine persönlichen Erfahrungen und professionelle Expertise zu sprechen.
Das Autismus-Spektrum ist sehr breit. Wie unterschiedlich können die Ausprägungen sein?
Die Ausprägungen des Autismus können sehr unterschiedlich sein. Es gibt Menschen mit einer sehr ausgeprägten, schweren Form von Autismus, die keine mündliche Sprache haben und nicht sprechen können. Diese Menschen können mithilfe von unterstützter Kommunikation wie Karten, Apps, elektronische Geräte oder Piktogramme kommunizieren. Es gibt auch Menschen mit leichten kognitiven Behinderungen bis hin zu Lernbehinderungen, sowie solche mit überdurchschnittlicher bis hin zu sehr hoher Intelligenz.
Wie nimmt ein Mensch mit Autismus die Welt wahr?
Menschen mit Autismus nehmen die Welt unterschiedlich wahr, jedoch gibt es Gemeinsamkeiten. Zum Beispiel verarbeiten wir sensorische Reize anders als Menschen ohne Autismus. Wir nehmen Geräusche stark wahr, auch irrelevante. Einige besitzen ein gutes Gedächtnis ihrer Hautoberfläche und fühlen jedes Detail an ihrer Kleidung. Sie haben oft Schwierigkeiten, von kurzen Sommer- auf lange Winterkleider zu wechseln. Visuelle Besonderheiten wie helles Licht können unangenehm sein. Oft sind Menschen mit Autismus detailfokussiert. Sie achten auf kleinste Unterschiede bei Materialien und Oberflächen. Eine Flasche ist nicht einfach eine Flasche. Sie sehen jedes Detail, jede Delle und die kleinsten Schriftzüge darauf.
Warum ist es schwierig für sie, Blickkontakt zu halten?
Menschen ohne Autismus nehmen Blickkontakt auf, um durch die Mimik des Gegenübers zu erkennen, wie es einem anderen Menschen geht. Wenn Menschen mit Autismus in ein Gesicht blicken, erkennen sie den Gesichtsausdruck oft nicht. Als Kind hatte ich das Gefühl, dass es komische Muskelzuckungen waren, die für mich keine Relevanz hatten, sondern eher irritierend waren. Deshalb schaute ich beim Zuhören oft weg, da ich mich so besser konzentrieren konnte.
Wie wichtig ist sprachliche Präzision?
Mit autistischen Menschen sollte sehr genau gesprochen werden. Und wichtig: Was gesagt wird, sollte auch so umgesetzt werden. Ein Beispiel: Jemand sagt: «Jetzt gehen wir.» Dann ist es auch wichtig, dass wirklich 'jetzt' gegangen wird, denn 'jetzt' bedeutet 'in diesem Moment'. Menschen ohne Autismus verwenden die Sprache oft ungenau, und für sie bedeutet 'jetzt' eher 'in fünf Minuten'. Für eine autistisch wahrnehmende Person führt dies zu Irritationen, weil 'jetzt' plötzlich keine klare Botschaft mehr ist und bei jedem Menschen eine andere Zeitspanne bedeutet.
Wie können wir Menschen mit Autismus dabei unterstützen, Reizüberflutungen zu vermeiden?
Eine Möglichkeit ist die Schalldämpfung von Räumen, um die Akustik zu verbessern. Auch das Dimmern von Lichtern kann hilfreich sein. Oder die Platzierung beispielsweise eines autistischen Kindes an einem ruhigen Platz im Klassenraum. Weitere Möglichkeiten sind das Tragen von Kappen, Sonnenbrillen oder Noise-Cancelling-Kopfhörern, die Betroffene während der Schule oder auch am Arbeitsplatz tragen dürfen. Ein schönes Beispiel sind die Kinovorstellungen, angeboten von bestimmten Kinos zusammen mit Autismus Schweiz, bei denen die Akustik sowie das Licht im Kinosaal angepasst werden.
Wie war es für dich, dieses Interview mit mir zu führen? War es stressig, die Fragen spontan zu beantworten?
Heute ist es für mich viel einfacher als früher, Fragen zu beantworten, die ich nicht kenne. Im Gespräch zum Thema Autismus habe ich bereits Erfahrungen, denn das ist ja mein Beruf, den ich seit über 20 Jahren ausübe. Ich habe mir jedoch im Voraus viele Gedanken darüber gemacht, welche Fragen kommen könnten. So habe ich auch schon potenzielle Antworten überlegt.
Podcast
SRF 1
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