Journal
Führungskette

«Das Konzept der Führungskette muss bekannter werden»

15.01.2025
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Olivier, was bedeutet Mobilität für dich persönlich im Alltag?
Mobilität bedeutet für mich vor allem eines: Selbstständigkeit. Es geht darum, eigenständig von A nach B zu kommen, ohne auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Die Möglichkeit, meine Wege selbst zu planen und zu bewältigen, gibt mir Freiheit – und solange ich das tun kann, bin ich zufrieden. Natürlich gibt es Situationen, in denen ich Unterstützung benötige, sei es durch Umsteighilfen oder die Bahnhofhilfe. Doch mein Anspruch bleibt immer derselbe: so selbstständig wie möglich unterwegs zu sein.

Welche Herausforderungen erlebst du im öffentlichen Verkehr?
Eine der grössten Herausforderungen ist es, überhaupt die richtige Haltestelle zu finden. Nehmen wir als Beispiel eine Bushaltestelle in der Stadt: Ich muss wissen, auf welcher Strassenseite ich stehen muss oder wo genau die richtige Kante ist. Doch selbst wenn ich die Haltestelle gefunden habe, beginnt das nächste Problem – die Verifikation des Fahrzeugs. Häufig sind die Busse schlecht oder zu klein beschriftet, sodass ich nicht erkennen kann, um welche Linie es sich handelt.

Die naheliegende Lösung wäre, den Fahrer direkt zu fragen. Doch oft öffnen die Chauffeure nur die hinteren Türen, was für mich bedeutet, dass ich vorne keine Auskunft einholen kann. Wenn ich dann in der Mitte einsteige, bleibt mir oft nur die Möglichkeit, durch den gesamten Bus zu rufen, um herauszufinden, ob ich im richtigen Fahrzeug bin. Auch das gestaltet sich schwierig, denn viele Fahrgäste hören meine Fragen nicht – sie tragen Kopfhörer oder sind in ihre Handys vertieft. Es ist eine kleine Hürde, die im Alltag jedoch grosse Auswirkungen hat. Die IT-Abteilung des Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbands (sbv) hat aus diesem Grund eine App mitentwickelt, die dem Problem begegnet. Allerdings wurde das System «Intros» in der Schweiz – anders als in mehreren deutschen Städten – noch nicht im ÖV implementiert.

«Blinde Menschen stecken oft in schwierigen Situationen und wissen nicht, wie sie weiterkommen. Mehr Sensibilisierung und ein einfacher Dialog können schon helfen, Barrieren abzubauen.»
Olivier Maridor

Welche weiteren Schwierigkeiten erlebst du im Alltag, abseits des öffentlichen Verkehrs?
Ein grosses Problem sind Baustellen in der Stadt. Für blinde Menschen stellen sie oft eine unüberwindbare Barriere dar, denn spontane Änderungen der Route sind für uns kaum möglich. Wege müssen sorgfältig gelernt werden, häufig mit Unterstützung eines Instruktors. Wenn dann plötzlich eine Baustelle auftaucht, kann selbst eine kleine Veränderung dazu führen, dass ich mich nicht mehr zurechtfinde. Es fehlt mir die Übersicht – ich weiss nicht, ob ich nur kurz auf die Strasse ausweichen muss oder ob die Baustelle sich über hundert Meter erstreckt. In solchen Momenten bin ich auf die Hilfe anderer angewiesen.

Was sind typische Barrieren in Restaurants oder Veranstaltungsorten?
Kontraste und Beleuchtungen sind häufig problematisch. Eine schlechte Ausleuchtung und unmarkierte Stufen stellen gefährliche Stolperfallen dar – nicht nur für blinde Menschen und Personen mit einem minimalen Sehrest, sondern auch für ältere Leute. Besonders in grossen Räumen fehlt es oft an Orientierungspunkten, was die Navigation erheblich erschwert. Ich kann zum Beispiel nicht erkennen, wo sich Möbel befinden oder wo ein Abzweiger beginnt. Auch Sitzplatznummern sind oft zu klein und schwer zu lesen, während der Zuschauerbereich meist schlecht beleuchtet ist. Solche Barrieren nehmen mir die Sicherheit und machen es schwierig, Veranstaltungen unbeschwert zu geniessen.

Die ginto-App wird diesen Frühling auch für Menschen mit Sehbehinderungen erweitert. Was erwartest du von der App?
Die App sollte möglichst viele relevante Details abdecken, die für mich Barrieren darstellen könnten. Es genügt nicht, nur zu wissen, dass ein Gebäude grundsätzlich zugänglich ist – ich muss auch sicherstellen können, dass ich mich darin selbstständig zurechtfinde. Die App sollte deshalb umfassende Informationen zu Beschilderungen und Orientierungspunkten liefern. Besonders wichtig wäre eine durchgehende, idealerweise lückenlose Führungskette von A bis Z.

Du hast die sogenannte Führungskette erwähnt. Kannst du das erklären?
Die Führungskette beschreibt die Abfolge aller notwendigen Schritte, die barrierefrei gestaltet sein müssen, damit ich den öffentlichen Verkehr von A nach B problemlos nutzen kann. Sie umfasst viele Aspekte – von der Orientierung an der Haltestelle über die Verifikation des Fahrzeugs bis hin zur sicheren Navigation am Zielort. Doch sobald auch nur ein Glied dieser Kette fehlt, gerät der gesamte Ablauf ins Stocken. Leider erlebe ich solche Brüche in der Führungskette immer wieder.

«Barrierefreiheit ist nicht nur eine Frage der Infrastruktur, sondern auch des menschlichen Umgangs.»
Olivier Maridor

Was müsste sich in der öffentlichen Wahrnehmung ändern, damit Menschen mit Sehbehinderungen besser einbezogen werden?
Es braucht mehr Sensibilisierung. Viele Menschen wissen nicht, wie sie blinden Personen helfen können. Ein häufiges Verhalten ist, dass jemand die blinde Person einfach packt und in eine Richtung zieht, ohne zu fragen, ob und wie Hilfe gebraucht wird. Dabei wäre es so einfach: Man erkundigt sich, ob Unterstützung benötigt wird, bietet dann den Arm an und führt die Person, wenn sie es möchte. Auch das Konzept der Führungskette muss bekannter werden. Es ist eine gute Metapher – eine Kette, die auseinanderfällt, wenn ein Glied fehlt. Genauso funktioniert Mobilität für blinde Menschen. Es muss lückenlos barrierefrei sein.

Podcast

Radio SRF 1
Die ginto-App wird inklusiver

Olivier Maridor

Olivier Maridor ist seit seiner Kindheit blind – er hat noch einen minimalen Sehrest und kann beispielsweise Farben erkennen. Er arbeitet beim Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband (sbv) und ist dort für die Dossiers Öffentlicher Verkehr, Steuererklärung sowie Kultur und Freizeit zuständig. Zudem unterstützt er den Verein Sitios bei der Weiterentwicklung der ginto-App für Menschen mit Sinnesbehinderungen.

Bildquelle: sbv-fsa Rafael Bornatico

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