«Musik ist eine Sprache, die alle verstehen»
Wie wird Musik für gehörlose Menschen erlebbar? Gebärdensprachdolmetscherin Lilly Kahler erzählt im Interview, wie sie Songs in Gebärdensprache übersetzt, mit gehörlosen Übersetzerinnen auf der Bühne zusammenarbeitet und warum inklusive Live-Momente so wertvoll sind.
Auch dieses Jahr setzt die Stiftung Denk an mich beim Zauberpark am Flughafen Zürich ein Zeichen für Inklusion: Das Konzert von Marc Sway wird live in Gebärdensprache übersetzt. Drei gehörlose Übersetzerinnen stehen dafür auf der Bühne und machen die Musik für Menschen mit Hörbehinderungen erlebbar. Gebärdensprachdolmetscherin Lilly Kahler koordiniert die Vorbereitung, unterstützt das Team als Fachperson vor der Bühne und sorgt dafür, dass die Live-Performance mit dem Konzertgeschehen harmoniert.
Lilly, wie bist du dazu gekommen, Livemusik für gehörlose Menschen erlebbar zu machen?
Das begann vor vielen Jahren mit einer einfachen, aber tiefen Frage aus der gehörlosen Community: Warum ist Musik für euch Hörende eigentlich so wichtig? Gehörlose Menschen sahen diese Bilder von ausgelassenen Fans und wollten verstehen, was dahintersteckt. Als Dolmetscherin wurde ich immer wieder mit Musik konfrontiert – sei es in der Schule, an einer Beerdigung oder in der Kirche. Und jedes Mal stand ich vor der Frage: Sage ich einfach «es spielt Musik» oder versuche ich wirklich zu übersetzen? Ein Schlüsselmoment war ein Gottesdienst, bei dem ein Gehörloser ganz vorne zuschaute und wissen wollte: Wie klingt diese Orgel? Wie spielt sie? Da wurde mir klar: Wenn Interesse da ist, müssen wir Zugänge schaffen. Musik gehört für viele Menschen zu den intensivsten Erlebnissen des Lebens.
Wie muss man sich das vorstellen, wenn du Musik übersetzt? Was fliesst da alles in deine Arbeit ein?
Musik ist wie eine Crèmeschnitte, sie hat mehrere Schichten. Der «Boden» ist der Musikstil: Rock, Pop, Blues, Hip-Hop. Der «Deckel» ist der Künstler oder die Künstlerin: Warum singt diese Person diesen Stil? Dazwischen liegen die vielen Lagen: Melodie, Rhythmus, Dynamik, Instrumente, Atmosphäre und Emotion. Das alles passiert gleichzeitig. Unsere Aufgabe ist es, dieses Gesamtwerk so zu analysieren, dass wir es in eine andere Sprache übertragen können, in Gebärdensprache. Das ist ähnlich wie beim Dolmetschen gesprochener Worte: Es geht nicht nur um Wörter, sondern auch um Intention, Ironie, Stimmung. Musik ist einfach eine potenzierte Sprache. Mehr Ebenen, mehr Nuancen und genau deshalb so faszinierend.
Wie viel Vorbereitung steckt in der Übersetzung eines Konzerts?
Ich rechne pro Lied mit vier bis sechs Stunden. Bei einem Konzert mit 20 Songs sind das schnell 80 bis 100 Arbeitsstunden – plus Proben, plus Austausch mit gehörlosen Fachpersonen. Viele Musiker:innen erzählen, dass ein Lied manchmal über Jahre entsteht. Und wir gehen diesen Prozess rückwärts: Was ist das Grundtempo? Welche Instrumente prägen den Song? Welche Botschaft trägt der Text? Wie wirkt die Live-Version? Erst wenn wir das alles verstanden haben, kann eine gute Übersetzung entstehen.
Ist alles vorbereitet, geht es darum, die Übersetzung live zu performen und dabei spielt die Zusammenarbeit auf der Bühne eine zentrale Rolle. Wie kommuniziert ihr dabei untereinander?
Dieses Jahr stehen am Zauberpark drei gehörlose Übersetzerinnen abwechselnd auf der Bühne. Das ist etwas sehr Besonderes. Gehörlose Menschen haben eine andere, viel intuitivere Ausdrucksqualität in Gebärdensprache. Sie sind Muttersprachlerinnen. Ich als hörende Dolmetscherin komme nahe dran, aber es ist nie dasselbe. Damit die Performance funktioniert, arbeiten wir im Team: Die Übersetzerinnen studieren die Songs ein und ich unterstütze sie vor der Bühne als Fachperson. Ich gebe ihnen kurze Hinweise während des Konzerts, damit sie spontane Ansagen oder Veränderungen im Ablauf sofort aufnehmen können und die Übersetzung immer mit dem Live-Geschehen übereinstimmt.
Was motiviert dich, diese aufwändige Arbeit immer wieder zu machen?
Die Rückmeldungen der gehörlosen Besucherinnen und Besucher. Nach einem Konzert kommen sie oft zu mir und erzählen, wie stark sie einzelne Songs berührt haben oder dass bestimmte Stellen ihnen noch Tage später nachgehen. Manche sagen, dass sie sich inmitten von tausenden Menschen zum ersten Mal wirklich integriert gefühlt haben. Solche Momente zeigen mir jedes Mal, wie wichtig diese Arbeit ist und weshalb sich der grosse Aufwand für mich absolut lohnt. Musik verbindet Menschen und niemand sollte davon ausgeschlossen sein.
Radiobeitrag
Radio SRF 1
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Bildquelle: Cemil Erkoc