«Ohne die Brailleschrift wäre ich Analphabetin»
Auch 200 Jahre nach ihrer Erfindung bleibt die Brailleschrift für Kulturjournalistin Yvonn Scherrer unverzichtbar. Sprachausgaben und andere digitale Hilfsmittel können zwar vieles – doch echtes Lesen mit den Fingern ersetzen sie nicht.
Lesen mit den Fingerspitzen

Seit ihrer Kindheit liest Yvonn Scherrer Bücher in Punktschrift.
Schon als Kind hatte Yvonn Scherrer ihre ersten Berührungen mit der Brailleschrift. «Das waren riesige Tupfen, mit Nägeln zusammengesetzt. Später habe ich einfach alles gelesen, was mir in die Finger kam.» Was mit tastbaren Pappbüchern begann, ist längst Alltag: Ob beim Recherchieren, Schreiben oder Lesen – Braille ist für sie Arbeitsinstrument und Lesegenuss zugleich. Ihre Texte verfasst sie auf einem tragbaren Gerät mit Punktschrift-Tastatur. «Ich könnte auch am PC schreiben – aber mit meinem Tablet auf dem Knie bin ich einfach näher bei mir.»
Sechs Punkte, ein Universum

Yvonn Scherrer ist Kulturjournalistin bei SRF, Braillelehrerin und passionierte Leserin.
Die Brailleschrift basiert auf sechs Punkten – so angeordnet, dass sie exakt unter eine Fingerkuppe passen. Diese Idee ermöglichte Louis Braille vor 200 Jahren, ein universelles Alphabet zu entwickeln. «Man liest nicht Buchstabe für Buchstabe, sondern gleitet über die Zeile – das macht Braille so effizient», sagt Yvonn Scherrer. Die Punktschrift umfasst nicht nur Buchstaben, sondern auch Zahlen, Satzzeichen, Musiknoten und das in nahezu jeder Sprache. Ein taktiles Schriftsystem, das blinden Menschen weltweit Zugang verschafft: zu Bildung, Kultur und Unabhängigkeit.
Ein analoger Anker in digitalen Zeiten

Dank moderner Technik liest Yvonn Scherrer Texte auf einer Braillezeile.
Digitale Hilfsmittel erleichtern den Alltag, doch sie machen die Schrift nicht überflüssig. «Ich nutze Sprachausgaben, aber Braille bleibt unverzichtbar», sagt Yvonn Scherrer. Lesen mit den Fingern bedeutet für sie Selbständigkeit – ob im Lift, auf dem Bahnsteig oder im journalistischen Alltag. Gerade weil es heute so viele digitale Alternativen gibt, ist es umso wichtiger, die Punktschrift nicht zu verlieren. «Wer nicht lesen kann, schliesst sich von vielem aus – mit oder ohne Sehbehinderung», ist sie überzeugt.
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Key Facts
Noch weiter ins Thema eintauchen
Im «Treffpunkt» zum Thema «200 Jahre Brailleschrift» erzählt Yvonn Scherrer von den schweren Büchern, die sie schon als kleines Kind verschlungen hat und wie die Digitalisierung den Alltag von blinden Menschen erleichtert hat.
In einem Onlineartikel von SRF schreibt Yvonn Scherrer über die Vision, mit der Louis Braille 1825 sein Schriftsystem entwickelte und über das Glücksgefühl, mit den Fingern über die Zeilen eines Braillebuchs zu gleiten.
Im SRF-Podcast «Kontext» sprechen Yvonn Scherrer und Pietro Londino, beide Brailleleser:innen und Braillelehrer:innen, unter anderem über die Geschichte der Verbreitung der Punktschrift und über Braille-Beschriftungen im öffentlichen Raum.
Bildquellen: Gianmarco Castelberg (Titelbild), Depositphotos (Bild 1), Bettina Steiner (Bild 2), Walter Imhof (Bild 3)