aua für alle!
Interview mit Nicolette Kretz
Adrian Küpfer
13.05.2021
auawirleben ist seit 1983 Berns jährlich stattfindendes, internationales Theaterfestival, das im Mai während zwei Wochen Theaterproduktionen aus der der ganzen Welt nach Bern bringt. Es ist auch eines der ersten inklusiven Festivals in der Schweiz und hat insbesondere im Bereich der Inklusion von Menschen mit Hörbehinderungen eine Vorreiterrolle übernommen. Wir sprachen mit Nicolette Kretz, Gesamtleiterin des auawirleben Festivals, über ihre inklusiven Massnahmen.
Nicolette Kretz
Es ist einfach enorm bereichernd, Menschen mit unterschiedlichen Lebenswegen einzubinden. Sie bringen oft neue Perspektiven mit und man lernt so viel mehr voneinander.
Was sind Ihre Eindrücke von den ersten Tagen des diesjährigen Festivals?
Ich bin recht überwältigt. Es ist toll, wieder ins Theater gehen zu können. Endlich wieder Leute treffen zu dürfen. Ich bin gerade sehr beschwingt. Ich merke, was ich über die Zeit vermisst habe.
Wie erleben die Zuschauerinnen und Zuschauer das Festival?
Die Leute kommen. Das ist etwas, über das wir im Vorfeld nicht sicher waren. Bisher hatten wir nur ausverkaufte Vorführungen.
Wie erleben sie die Leute von den Emotionen her? Für Viele ist es das erste Mal seit Langem, dass sie wieder ins Theater können.
Sowohl auf der Zuschauerinnen- wie auch auf der Künstlerinnen-Seite dominiert die emotionale Überwältigung, endlich wieder ins Theater gehen zu dürfen. Viele sagen, wie schön es sei, endlich mal wieder Leute anzutreffen, die nicht nur aus dem unmittelbaren Umfeld stammen. Viele hatten während der Pandemie ja immer nur mit den gleichen Personen Kontakt. Das Schöne am Theater ist ja, dass sich an den Vorführungen jeweils eine Gruppe von Menschen zusammenfindet, die fremden Leuten zuhören können oder mit ihnen darüber sprechen können, was sie sich überlegt haben und dadurch einen Einblick in andere Welten erhalten.
Was heisst genau inklusives Festival?
Inklusion verstehen wir auf drei Ebenen: auf der Zuschauer:innen-, Künstler:innen- und der Mitarbeiter:innen-Ebene. Für die Zuschauer:innen erarbeiten wir zugängliche Produktionen, damit möglichst viele Leute die Theaterstücke besuchen können. Auf der Künstler:innen-Ebene binden wir Künstler:innen mit einer Behinderung in die Theatergruppen, in die Regie oder auf der Bühne mit ein. Ins Team gewinnen wir immer wieder Mitarbeiter:innen mit einem besonderen Lebensweg oder mit einer Behinderung, die eine andere Perspektive mitbringen.
Warum ist Ihnen das wichtig?
Als Theaterveranstalterin liegt die Herausforderung darin, die Kunst an möglichst viele Menschen heranzutragen oder ihnen diese zugänglich zu machen. Dafür braucht es viele Massnahmen. Andersrum gesagt: Wir fragen uns immer wieder, was eine Person daran hindern könnte, nicht ins Theater zu kommen. Liegt es an den Treppen, die diese Person nicht besteigen kann? Dann braucht es eben eine Rampe!
Auf der Ebene der Künstler:innen und Mitarbeiter:innen ist es einfach enorm bereichernd, Menschen mit unterschiedlichen Lebenswegen einzubinden. Sie bringen oft neue Perspektiven mit und man lernt so viel mehr voneinander.
Was ist der Mehrwert fürs Publikum?
Die multiplen Perspektiven unserer Mitarbeiter:innen und Künstler:innen widerspiegeln sich natürlich in unseren Aufführungen. Und genau deswegen kommen die Leute ja ins Theater: um zu schauen, wie andere mit einem leicht anderen Blick auf die Welt darüber berichten.
Fürs Publikum dienen die Massnahmen gleichzeitig auch als Sensibilisierung. Haben wir in einem Theaterstück eine Gebärdendolmetscherin, ist dies einerseits für die gehörlosen Zuschauer:innen ein Mehrwert. Andererseits werden dadurch auch die Hörenden sensibilisiert und darauf aufmerksam gemacht, dass im Publikum Menschen mit einer Hörbehinderung sitzen.
Seit 2019 weitet ihr den Fokus auf Menschen mit Sehbehinderungen sowie neurodivergente Menschen aus. Wo wollt ihr euch noch verbessern?
Neurodivergente Menschen sind Leute aus dem Autismus-Spektrum, Menschen mit ADS oder mit Tourette-Syndrom. Es handelt sich dabei häufig um nicht sichtbare oder nicht offiziell diagnostizierte Behinderungen. Wir möchten das Festival künftig für Menschen mit unsichtbaren oder unerkannten Behinderungen offener gestalten.
All die inklusiven Massnahmen brauchen viel Geld. Wie finanziert ihr euch?
auawirleben wird von der Stadt Bern subventioniert. Ein grosser Teil der allgemeinen Kosten wird durch diesen Beitrag und die Einnahmen aus Tickets und Gastronomie gedeckt. Weiter wird das Festival von Stiftungen aus dem kulturellen Bereich oder wie der Stiftung Denk an mich unterstützt.
Und all die inklusiven Massnahmen budgetieren wir in unserer Finanzplanung einfach mit ein. Das ist für uns so selbstverständlich, wie wir Strom für unser Büro oder Licht für die Bühne einplanen.
Podcasts
SRF 1
auawirleben: Wahnsinnige Leidenschaft für alle
SRF 1
auawirleben: Das inklusive Theaterfestival in Bern
Kurz erklärt
Inklusive Festivals
Seit 2016 gehört auawirleben zu den ersten Schweizer Kulturinstitutionen, welche mit dem Label «Kultur inklusiv • Culture inclusive» ausgezeichnet wurden. Dieses Label geht an Institutionen, die sich sowohl auf der Publikumsseite als auch bei den Künstlerinnen und Künstler sowie Mitarbeitenden nachhaltig für die ganzheitliche Inklusion von Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in das kulturelle Leben einsetzen.
Die Stiftung Denk an mich unterstützt das auawirleben Theaterfestival, weil es sich den Grundsatz der Inklusion nicht nur auf die Fahne geschrieben hat, sondern die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am kulturellen Leben mit konkreten Massnahmen fördert.
Weitere Schweizer Festivals, die Inklusion fördern und leben und deshalb von der Stiftung Denk an mich unterstützt werden sind (Berichterstattungen im Journal folgen zu einem späteren Zeitpunkt):
Wildwuchs Festival (27. Mai bis 06. Juni, Basel)
Theaterzirkus Wunderplunder 2021 (div. Spielorte)
Zürcher Theaterspektakel (19. August bis 05. September, Zürich)
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